Im unsichtbare
Im unsichtbaren Wien - Fotonotizen von Gerhard Roth
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Ausstellung11.02.2010 - 16.05.2010
Schreibend und fotografierend erkundet Gerhard Roth Wien seit mehr als 20 Jahren. Seine intensive Beschäftigung mit der Hauptstadt spiegelt sich in seinen Romanen und besonders in den Essaybänden „Eine Reise in das Innere von Wien“ (1991) und „Die Stadt“ (2009). Ziel seiner Spurensuche waren stets „verborgene“ Orte, unter ihnen das Pathologisch-anatomische Bundesmuseum im Narrenturm, das Uhrenmuseum, das Depot des Naturhistorischen Museums, der Friedhof der Namenlosen oder das Haus der Künstler in Gugging. Roth blickt hinter die Kulissen, ihn interessieren die Außenseiter und die Vergessenen, das Verschwiegene und Verdrängte. Die Expedition ins „unsichtbare“ Wien wird zur „Reise in die Vergangenheit, die die Leichen im eigenen Keller zutage fördert“ (Daniela Bartens).
Bei seinen akribischen Recherchen hat der Schriftsteller immer die Kamera dabei, um „Fotonotizen“ anzufertigen. Im Lauf der Jahre entstand so ein überbordendes Archiv mit mehreren Zehntausend Aufnahmen. Für Gerhard Roth stellen die 10 x 15 cm großen Bilder ein „Zwischenstadium zum Schreiben“ dar. Im Zentrum der Ausstellung steht ein Querschnitt der Wien-Fotos, die zwischen 1986 und 2009 entstanden sind. Präsentiert werden die rund 1500 Bilder in einer meterlangen transparenten Membran, die dem Seriellen und Archivarischen im Werk von Gerhard Roth Reverenz erweist: eine Bilderreise, die wie Roths Essays eine magische Sogkraft entwickelt. Die thematische Auswahl umfasst 14 Orte in und um Wien, ergänzt um immer wiederkehrenden Motive von Roths Streifzügen: Mauerflecken, Krähenspuren, Eisblumen und andere „Mikrostrukturen“.
Es begann in Amerika
Zu fotografieren begonnen hat Roth auf seinen USA-Reisen in den frühen 70er Jahren, die zum Roman „Der große Horizont“ führten. Die Fotografie sei für ihn damals eine „Notwehr gegen den Bilderstrom“ gewesen, so der Schriftsteller: „Ich zerlegte ihn, zerhackte ihn in einzelne Bilder.“ Die Amerika-Fotos, die in der Ausstellung als Projektionen zu sehen sind, dienten beim Schreibprozess dazu, den „Kopffilm“ in Bewegung zu setzen. Auch wenn sich die Funktion der Fotos für das literarische Werk im Laufe der Jahrzehnte änderte, gibt es doch bis heute eine Konstante: Roth fotografiert scheinbar „nebensächlich“ oder „selbstverständlich“, er fühlt sich nicht als „Jäger“ mit einer Kamera. Inszenierte und „schöne“ Bilder interessieren ihn genauso wenig wie originelle Schnappschüsse. Fotos dienen hier primär als „Erinnerungsspeicher“ außerhalb des Kopfes, das Fotografieren sei ihm am liebsten, wenn es so geschieht „wie das Gehen: automatisch, unkompliziert, einfach, nebenbei“. Roth betrachtet seine „Fotonotizen“ nicht als Kunstwerke, auch wenn sie eine subtile Anziehungskraft entfalten: „Hat ein Bild so etwas wie Magie, dann entsteht sie durch die Magie, die der Gegenstand der Fotografie auf mich ausübt.“ Dieser Gegenstand kann ebenso ein wertvolles Kunstwerk sein wie eine Spur von Hunde-Urin auf dem Gehsteig.
Gerhard Roth sammelt Bilder gezielt und akribisch wie ein Archivar, mit Analog-, Digital-, Spiegelreflex- oder Kompaktkamera. Die Recherche wird zur Obession, wie sie die Germanistin Daniela Bartens beschreibt: „Oft scheint es, als würde der Autor am liebsten alles aufzählen und aufzeichnen, nur nichts auslassen [...], alles erscheint für sich allein bedeutungsvoll und könnte möglicherweise als Puzzlesteinchen im Rätsel des Lebens Bedeutung gewinnen.“ Die Fotos zeugen auch vom Vorgehen bei der Recherche – von Außenansichten von Gebäuden über Innenräume und Sammlungsbestände in ihrer Gesamtheit bis hin zu einzelnen Objekten und Details davon. Das Serielle überwiegt gegenüber dem Einzelbild, neben äußerst nüchternen gibt es etwa auch pittoreske, ironische oder groteske Aufnahmen (auch wenn der Autor sich von der „großen Geste“ beim Fotografieren distanziert). Das Interesse für Abgründiges äußert sich in mitunter schockierenden Motiven, mit seinen „Strukturfotos“ dokumentiert der Autor die Magie und Poesie des Alltags (für die Aufnahmen von Mauerflecken ließ er sich vom katalanischen Künstler Antoni Tapiès inspirieren).
Die Archive von Wien
Gerhard Roth, der 1942 in Graz geboren wurde und bis heute die Sommermonate in der Südsteiermark verbringt, lebt seit 1986 in Wien. In den späten 80er Jahren begann er für das ZEIT- Magazin über Wien zu schreiben, 1991 veröffentlichte er den bekannten Essayband „Eine Reise in das Innere von Wien“, der den siebenbändigen Zyklus „Die Archive des Schweigens“ abschloss. Die Verfilmung des Buches (1995, Regie: Jan Schütte) ist in Ausschnitten in der Ausstellung zu sehen. Auch später suchte Roth immer wieder Wiener Orte auf, die in seinem literarischen Werk Niederschlag finden, so etwa in den Romanen „Das Labyrinth“ und „Der See“ (beide Teile des „Orkus“-Zyklus). „Ich habe die Gebäude und Orte, die ich beschreibe, als Stoff für meine Analysen gebraucht“, so Roth. Besonders wichtig sei ihm gewesen, „was in der Zeit zwischen 1938 und 1945 dort passiert ist“.