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180°: DIE SAMMLUNG IM KUBUS

Stuttgart

Seit der Eröffnung des Kunstmuseum Stuttgart erlebten über eine Million Besucher das Zusammenspiel von Kunst und Architektur. Im Glaskubus fanden Sonderschauen statt, Erd- und Untergeschoss waren weitgehend der städtischen Kunstsammlung vorbehalten. Um die großformatigen Werke der Ausstellung »Michel Majerus« angemessen prä- sentieren zu können, hat das Museum ein radikales Experiment unternommen und das Raumkonzept des Hauses auf den Kopf gestellt: Die Drehung um »180 Grad«, mit der die eigene Sammlung auf Zeit in den Kubus wandert, schafft die Möglichkeit, Sehgewohnheiten zu hinterfragen und die scheinbar vertraute Kunst und definierte Architektur in ungewohntem Kontext neu zu erfahren. Mit zwei Tagen der offenen Tür und freiem Eintritt am 19. und 20. November dankt das Kunstmuseum Stuttgart seinen geduldigen Besuchern und eröffnet den ersten Teil der Gesamtpräsentation in den neuen Räumen. Die Museumskuratoren Simone Schimpf und Daniel Spanke beleuchten den Stuttgarter Kunstbestand jenseits von Chronologie und kunsthistorischen Kategorisierungen in vier großen Themenbereichen: Unter der von Karl Gerok entlehnten Gedichtzeile »Mein Stuttgart, wieder da« wird ein bestimmter Ort – Stuttgart – durch verschiedene künstlerische Ansichten erkennbar, während es in dem der Ortlosigkeit gewidmeten Saal um abstrakte Formsprache – »Kein Ort. Nirgends« – geht. In der zweiten Etage stehen sich, nach Foucaults philosophischer Abhandlung »Les mots et les choses« benannt, die Dinge und die Wörter gegenüber und räsonieren über die Beschreibung und Erfassung von Welt. Ergänzend dazu widmen sich einzelne Räume zentralen Künstlern der Sammlung wie Otto Dix, Willi Baumeister, Dieter Roth und Wolfgang Laib.

Mein Stuttgart, wieder da Der Blick auf Stuttgart durchzieht die Stuttgarter Kunstsammlung thematisch bis in die Gegenwart. Den Anfang macht die lokale Landschaftsmalerei der Schwäbischen Impressionisten, deren Werke über eine Schenkung des Grafen Silvio della Valle di Casanova im Jahr 1925 den Grundstock für die städtische Sammlung legten. Später wählten Künstler wie Reinhold Nägele oder Oskar Kokoschka in klassischer Manier einen erhöhten Standpunkt, um die Charakteristika der Stuttgarter Tallage zu betonen und das dichte Netz aus Häusern und Straßen zeigen zu können. In den letzten dreißig Jahren thematisierten Dieter Roth und Heinz E. Hirscher Stuttgart, indem sie mit Witz einzelne Aspekte des urbanen Lebens schilderten. Günther Förg hinterfragt in seinen fotografischen Arbeiten den Umgang mit der Weißenhofsiedlung, einem Meilenstein der Architektur, kritisch.

Kein Ort. Nirgends
Anders als die Werke im gegenüberliegenden Eingangsraum, die sich konkret auf Stuttgart beziehen, ist das Thema der hier versammelten Gemälde prinzipiell nicht verortbar. Die Abstraktion ist eine der großen Sprachen der modernen Kunst, die sich davon gelöst hat, lokale Traditionen weiterzuführen. In Stuttgart beginnt die Abstraktion mit einem der Gründerväter dieser Strömung: Adolf Hölzel. Als er 1905 an die Stuttgarter Akademie berufen wird, ändert er seinen Münchner Malstil radikal und lehrt seine Studenten die Bildgrundlagen: Farbe, Form und Linie. Sie reichen aus, um eine eigene Bildwelt hervorzubringen, die jenseits aller Nationalitäten liegt. Konsequent bestreitet auch ein zeitgenössischer Künstler wie Ekrem Yalcindag, der in Izmir und Frankfurt studiert hat, dass seine Gemälde spezifisch islamische Ornamentik thematisieren und besteht darauf, Teil der westlichen Moderne zu sein.

Les mots et les choses Der Zusammenhang zwischen Sprache und Welt, den Wörtern und den Dingen, gehörte schon immer zu den Grundfragen menschlicher Existenz. Bezeichnen die Worte einfach nur Sachverhalte oder bringen sie nicht selbst auch Wirklichkeit hervor? Die Bildende Kunst ist von dieser Frage unmittelbar betroffen: Lässt sich über den Kosmos der Bilder überhaupt angemessen sprechen? Die Werke im ersten Raum beschäftigen sich damit, wie Schrift Teil eines Bildes wird. Adolf Hölzel, Jannis Kounellis und Walter Stöhrer lassen die Schrift ins Bild wuchern und verleihen ihr damit neue Qualitäten. Lesen und Sehen erweisen sich als eigenständige Erkenntniswege.

Der komplementäre Raum kreist um die Dinge: In seinem Buch »Die Ordnung der Dinge« von 1966 spricht Michel Foucault unter anderem über das vorökonomische Zeitalter, in dem das Wissen um die Reichtümer in der fürstlichen Wunderkammer zelebriert wurde. In der Kunst spiegelte sich dies in der traditionellen Gattung des Stilllebens wider. Jedes dargestellte Objekt war nicht allein repräsentativ, sondern wurde durch eine reiche Symbolik überhöht. In der Moderne gibt es immer noch Stillleben, die sich oftmals reflektiert mit der Kunstgeschichte auseinandersetzen. Doch die Befragung der Dinge ist weitaus kritischer, da sich dahinter kein Erlösungsversprechen mehr verbirgt. Wenn der englische Künstler Martin Creed »Things« aus flackernden Neonbuchstaben formt, gibt er kein eindeutiges Bezugssystem mehr an. »Things« kann alles oder nichts bezeichnen.

Die Künstlerräume
Die thematische Neupräsentation der Sammlung wird durch vier monografische Räume ergänzt, die Künstlern gewidmet sind, die die Stuttgarter Sammlung entscheidend prä- gen. So bleibt den zentralen Werken von Otto Dix die gesamte dritte Etage des Kubus vorbehalten. Besonders hervorzuheben ist, dass in Ergänzung zum berühmten »Groß- stadt«-Triptychon nach längerer Zeit hier auch die dazu gehörige Vorzeichnung auf Karton zu sehen sein wird.








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  • Otto Dix, Der Salon I, 1921
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  • Reinhold Nägele, Aussicht vom Bahnhofsturm..., 1930
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    Kunstmuseum Stuttgart
  • Dieter Krieg, Glocke, 1984–1985
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    Kunstmuseum Stuttgart
  • Adolf Hölzel, Gespräch, 1917/1918
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    Kunstmuseum Stuttgart
  • Oskar Kokoschka, Stuttgart, 1960
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    Kunstmuseum Stuttgart