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Kobe

Talents 35 . Hikari: David Favrod / Julia Katharina Thiemann

Kobe

BAOUMMM, Tatatatata, Viuuu. Luftangriffe auf Kobe. In den letzten sieben Monaten des Zweiten Weltkrieges wird die japanische Großstadt zur Hälfte zerstört. Brand- und Splitterbomben verursachen enorme Schäden und fordern tausende Opfer unter der Zivilbevölkerung. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Energie kommt zum Erliegen, das soziale Leben bricht zusammen. Danach kollektives Schweigen über Jahrzehnte hinweg. Vergangenheit wird begraben, Leiden unterdrückt, Aufarbeitung abgehakt. Wie jedoch kann die Erinnerung an eine individuelle und kollektive Katastrophe bewahrt werden? Wie können mündlich tradierte Erfahrungen im kulturellen Gedächtnis festgehalten werden? Und kann man sich fremde Erinnerungen leihen, um seine eigene Identität zu festigen? Der Fotograf David Favrod begibt sich auf die Spuren seiner Großeltern, die in Kobe Überlebende und Zeugen des Krieges sind. In seinem Bilderzyklus verarbeitet er seine Familiengeschichte, die er selbst nur aus Erzählungen kennt und die ihn unbewusst beim Heranwachsen geprägt hat. Mit seinen Fotografien stellt er Erinnerungen an Ereignisse nach, die er selbst nie erlebt hat, und lotet mit seiner künstlerischen Aneignung den schmalen Grat zwischen Fiktion und Realität aus.

In seinen Bildern inszeniert David Favrod die historischen Ereignisse nicht realgetreu im Sinne eines fotografischen Reenactments nach, sondern deren Tradierung und Interpretation. Den nichtlinearen Erzählungen seiner Großeltern nähert er sich durch gefundenes und fremdes Bildmaterial, das er zu einem eigenen Narrativ neu zusammensetzt – zu eigenwilligen, fiktiven Gedächtnisbildern. Dabei setzt er das Medium Fotografie ein, begnügt sich jedoch nicht damit allein, sondern kombiniert die unterschiedlichsten bildgebenden Techniken wie Überlagerung, Collage oder Zeichnung zu einem bildnerischen Ganzen. Eine weitere Besonderheit seiner Fotografien ist die Verwendung von Onomatopoetika – verschriftliche Geräusche in Acrylfarbe auf der Bildoberfläche als genuines Gestaltungselement. Im Stil japanischer Mangas implementiert David Favrod den Klang von Kampffliegern, einschlagenden Bomben, Maschinengewehren und (radioaktivem) Regen in seine Arbeiten. Das Nicht-Darstellbare verweist auf die Intensität und Bedeutung akustischer Reize für die Wahrnehmung und Erinnerung.

So entsteht eine neue visuelle Struktur, welche die Grenzen der Fotografie überschreitet und vollkommen neue Bildräume und Narrationsmöglichkeiten schafft. Seine Bilder sind somit bewusst uneindeutig und unterlaufen das Medium Fotografie, dem nach wie vor der Glaube an ein „So-ist-es-gewesen“ anhaftet. In seinen Arbeiten treten Erfahrungen der Diskontinuität, des Fragmentarischen, der Uneindeutigkeit und Mehrperpektive auf, um so den assoziativen Akt des Erinnerns sichtbar zu machen. David Favrod begreift das individuelle und kollektive Gedächtnis nicht als klar umrissene Basis, sondern als fluiden, sich stets neu zusammensetzenden Prozess der Selbstvergewisserung und Sinnstiftung. Erinnerung wird immer wieder neu verhandelt als soziale Konstruktion und kulturelle Schöpfung. Gerade erst die Kombination aus fotografischen und nicht-fotografischen Mitteln erschafft hier ganz eigene Traumbilder und Erinnerungsfragmente; vergangene Ereignisse wie auch Phantasien und Assoziationen verweben sich miteinander zu neuen Geschichten. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden dabei ganz bewusst verwischt, um sich letzten Endes der „Wahrheit“ umso mehr annähern zu können.

Dieses Vorgehen lässt sich interessanterweise auch in anderen Bereichen visueller Medien beobachten. So wird in den letzten Jahren immer häufiger eine neue Art des Dokumentarfilmes erkennbar, in denen sich die Filmemacher einer innovativen, hybriden Kombination aus Animation und Dokumentation bedienen, wie z.B. in Last Hijack von Femke Wolting und Tommy Pallotta, der kürzlich den International Emmy Award 2015 gewann, oder aber Bitter Lake von Adam Curtis, ebenfalls 2015 – um nur zwei Beispiele zu nennen. Indem jene Filme bewusst mit fiktiven Elementen spielen und ein wildes Cross-Over aus Fiktion, Rohmaterial und klassischer Dokumentation vereinen, erzählen sie zwar eine auf der Wahrheit basierende Geschichte, spielen aber gleichzeitig mit dem Eindruck dass der Film auch fiktiver Natur sein könnte – und verwischen damit die Grenzen traditioneller Dokumentarfilme.

David Favrod steht damit stellvertretend für eine Strömung von Künstlern und Filmemachern, die seit Einführung der digitalen Techniken bewusst bisherige Traditionen hinterfragen und brechen, zugunsten einer Öffnung bisheriger Grenzen hin zu hybriden Bild- und Erzählstrukturen – wodurch sich Art und Weise des Geschichtenerzählens radikal verändern.






  • 07.11.2015 - 31.01.2016
    Ausstellung »
    C/O Berlin »

    Ausstellung 7. November 2015
    bis 31. Januar 2016
    Eröffnung 6. November 2015 . 19 Uhr

    Presseführung 6. November 2015 . 11 Uhr

    Öffnungszeiten täglich . 11 bis 20 Uhr
    Eintritt 10 Euro . ermäßigt 5 Euro



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