Lebenslust & T
Lebenslust & Totentanz. Olbricht Collection
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Ausstellung18.07.2010 - 07.11.2010
Die Einrichtung der ersten Wunderkammern durch Aristokraten im 16. Jahrhundert fiel nicht grundlos in die Epoche der Weltentdeckung und Wissenserweiterung, in der die reisenden Forscher und Intellektuellen staunenswerte Exponate von ihren Expeditionen nach Hause zu ihren Potentaten brachten. Bald kam der Begriff der Kunstkammer hinzu, der neben den natürlichen auch die artifiziellen Objekte umfasste, die freilich ohne hierarchische Ordnung eine gleichberechtigte, auf symbolische Korrespondenz ausgerichtete Präsentation erfuhren und dem humanistisch gebildeten Besitzer anhand eines mikrokosmischen Ausschnitts einen Makrokosmos widerspiegelten. Diesen Sammlungen lag die Intention zugrunde, eine Weltanschauung und -erkenntnis erfahrbar zu machen, die auf enzyklopädische Weise Themenbereiche aus Geschichte, Natur, Wissenschaft und Kunst in einen Zusammenhang brachte. Dabei wurden die als Vorläufer der Museen zu betrachtenden Sammlungen nach Materialien und Kategorien wie „Naturalia“ (unbearbeitete Naturprodukte), „Artificialia“ (zu Artefakten verarbeitete Naturprodukte), „Exotica“ (ethnografische Objekte) und „Scientifica“ (technische Apparaturen) unterteilt.
Mit dem Beginn der Aufklärung und der Übernahme neuer Paradigmen, die der Herrschaft der Vernunft den Vorzug gegenüber althergebrachten Ideologien gaben, wurde insbesondere das vorwissenschaftliche Prinzip des Staunens und der Verwunderung über das Unerklärliche zunehmend skeptisch betrachtet. Nicht zuletzt, weil nach René Descartes (1596–1650) ein derartiger wundergläubiger Schaulustansatz unwissenschaftlich ist und den notwendigen Einsatz des Verstandes verhindert. Die Zeit der Spezialmuseen mit streng isolierten Sammlungsgebieten war angebrochen, die Kunst- und Wunderkammermethodik mit ihrer Parallelsetzung von Kunst und Natur schien passé.
Julius von Schlosser (1866–1938), ein bedeutender Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, hat den Terminus technicus „Kunst- und Wunderkammer“ mit seiner Schrift „Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance“ erst 1908 wieder ins Spiel gebracht. Die Bedeutung der „Wundercamera“ für eine zukünftige Kunstproduktion sollte erst der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp (* 1947) im Jahr 1993 mit seiner Publikation „Antikensehnsucht und Maschinenglauben“ thematisieren: „Ich bin der festen Meinung, dass wir nach 200 Jahren der ästhetischen Rationalität, die notwendig war, auf einem neuen Niveau in einem Zeitalter der Kunstkammer sind. Die Mauern zwischen den Disziplinen werden niedriger, die Naturwissenschaft nähert sich in ihren bildnerischen Ausdrucksformen den Formen der Kunst […].“ In der Annäherung und Verknüpfung von Natur- und Kulturwissenschaften und in der damit verbundenen gegenseitigen Bereicherung der Disziplinen sieht Bredekamp – der hier ganz in der Nachfolge des von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) bereits um 1700 propagierten „Theatrum naturae et artis“ steht – einen möglichen Weg für kulturelle Weiterentwicklung.
Genau diese packende Verbindung zeichnet die Sammlung von Thomas Olbricht aus und findet sich in der Ausstellung „Lebenslust und Totentanz“. Die Präsentation macht nachvollziehbar, wie die Menschheit in den letzten Jahrhunderten der harten Alltagsrealität zwischen Krieg und Terror, Krankheit und allgegenwärtigem Tod immer auch die Flucht in die schöne Illusion, in Liebe, Lust und Lebensgier suchte oder ihre Ablenkung in Frömmigkeit und religiösen Ritualen fand. Die Epochen des Aufbruchs sind dabei immer auch als Zeiträume des Verfalls zu verstehen.
Die neue Aktualität des Wunderkammergedankens mag auch darin liegen, dass in Zeiten virtueller Welten und des damit einhergehenden empfundenen Verlusts an Wahrnehmungsfähigkeit wieder eine Sehnsucht nach realen Bildern besteht und die auf modernen Kommunikationstechnologien basierende, kaum mehr zu bewältigende Informationsflut den Überblick nicht fördert, sondern im Gegenteil verhindert. Als Folge scheint ein Bedürfnis nach Erkennen und Wahrnehmen eines makrokosmischen Weltbildes evidenter denn je. Die Methode der Wunderkammer als Setting nichtlinearer Chronologie und bewusster Vermeidung von Gattungsgrenzen ist genau jene, die in Zeiten der zunehmenden Erweiterung der Welt eine Möglichkeit bietet, Orientierung zu erlangen, um die reale Welt mittels mikrokosmischer, modellhafter Praktiken neu zu verorten.
Als Ausweg und zur Beförderung eines tieferen Verständnisses dieses Dilemmas wurde zunehmend ein assoziierendes, interdisziplinäres Denken im Sinne von Aby Warburgs (1866–1929) Vorstellung von der Bildkunst als sozialem Gedächtnis propagiert, das historische, philosophische, psychologische, soziale und andere Kontexte einbezieht. Dies ermöglicht im Falle der Ausstellung „Lebenslust und Totentanz“ nicht nur spannende Beziehungskonstellationen und Gegenblicke über die Epochen hinweg, sondern einen Transfer kollektiver Erfahrungszusammenhänge in eine jeweils andere kulturelle Periode.
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